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Beitrag vom 12.04.2010
Kein Ort. Fluchtwege von Tschetschenen in Europa - Ein Film von Kerstin Nickig
Undine Zimmer
"Kein Ort" erzählt das Schicksal vier tschetschenischer Flüchtlinge: darunter ein Offizier, ein Journalist, eine Familie mit einer kranken Tochter und ein junger Arbeiter mit Familie. Alle...
... träumen und hoffen auf ein Leben in einem Europa, "wo ein Menschenleben noch etwas wert ist". Regisseurin Kerstin Nickig ist ihren ProtagonistInnen ein Jahr lang gefolgt und hat damit ein Portrait von Europas Grenzen aus der Perspektive der Flüchtlinge eingefangen.
Im Jahr 2008 waren Flüchtlinge aus dem Nordkaukasus die zweitgrößte Gruppe von AsylbewerberInnen in der EU. Vier Schicksale werden in "Kein Ort" erzählt. Vier Versuche irgendwo anzukommen und ein normales Leben führen zu können, geprägt von Alpträumen, Ängsten, Trauer um verstorbene Verwandte - aber in Sicherheit. "Kein(en) Ort" finden Ali, Wacha, Ruslan, Tamara und Abu in Polen, in Österreich und in der Ukraine. Die meisten kommen jedoch nirgendwo an, sie bleiben eingeschlossen in einem Warteraum der europäischen Bürokratie bedroht von der Abschiebung. Den Stimmen ihrer ProtagonistInnen, stellt Nickig Interviews mit VertreterInnen von Migrationsbehörden gegenüber, die erläutern, auf welchen Wegen die Flüchtlinge nach Europa gelangen und welche Verfahren sie durchlaufen müssen.
Die Anschläge vom 29. März 2010 auf die Moskauer Metro erinnerten schmerzhaft daran, dass der Krieg im Kaukasus bisher nur von russischer Seite als beendet erklärt wurde. Aber ist der Nordkaukasus nur eine russische oder bereits eine internationale Angelegenheit geworden? Diese Frage stellte kürzlich die russische Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa in den deutschen Medien. Der Film "Kein Ort" schließt sich dieser Frage an. Sollte sich Europa mit seiner Asylpolitik vielleicht doch mehr einmischen? Kann Europa diejenigen unterstützen, die genug haben von den Kriegen und dem Kampf gegen den Terror? Asyl in Europa zu suchen, ist für diese Menschen der Kampf ums Überleben, für den sie bei Schleppern oder Behörden teuer bezahlen müssen, weil sie an Menschenrechte glauben und dafür in ihrer Heimat verfolgt werden.
"Salam aleikum Europa", so beginnt der inguschetische Journalist Ali seine gesprochenen Briefe an "Europa". In ihnen erzählt er von seiner Resignation, der immer wieder aufgeschobenen Entscheidung um den polnischen Asylantrag, von den Hoffnungen seiner Frau auf ein besseres Leben, von der Folter, die er erlitten hat, weil er die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja unterstützte, von drei Kriegen und von den Zelten im Lubliner Stadtpark in Polen, wo die Männer der tschetschenischen Familien schlafen müssen, weil die Stadt den Flüchtlingen keine Wohnungen zur Verfügung stellt. Warten oder illegal weiterreisen? , das ist die Frage, die ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Sein Fazit deckt sich mit den Erfahrungen der anderen ProtagonistInnen des Films:
"Der EU-Bürokrat arbeitet ein Formular ab, in dem genau beschrieben ist, wie ein Asylsuchender aussehen, was er sagen und welche Papiere er mitbringen muss. Er muss diesen Mensch dann nur noch mit seiner Schablone vergleichen und die Entscheidung treffen. Aber eine Frage hätte ich schon: Wo gibt es einen Test, mit dem man herausfinden kann, was dieser oder jener Mensch durchgemacht hat?"
Eine glückliche Ausnahme bildet die Geschichte des politischen Aktivisten Wacha, der in Österreich politisches Asyl erhalten und dort auch eine neue Liebe und eine neue Heimat gefunden hat. Durch seine Kontakte setzt er sich auch für seinen Sohn ein, der von der Armee desertiert ist und dessen Leben in Gefahr schwebt, als er von den Behörden geschnappt wird.
Hintergrund
Der Tschetschenienkrieg hat seit 1994 die ganze Region des Nordkaukasus politisch und wirtschaftlich destabilisiert. Viele Menschen sind von ihren Erlebnissen schwer traumatisiert. Bis heute werden in Tschetschenien und in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan fast täglich ZivilistInnen ermordet, entführt und gefoltert. Meist wissen ihre Verwandten nicht, welche der vielen militanten Gruppen verantwortlich ist: Russischer Geheimdienst, Militäreinheiten aus Moskau, Leute des tschetschenischen Despoten Ramzan Kadyrov bzw. andere lokaler Machthaber oder Guerillagruppierungen. Aus den Medien sind Anschläge auf MenschenrechtlerInnen bekannt, wie die Ermordung der Journalistin und Aktivistin für Menschenrechte Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in Moskau. des Rechtsanwalt Stanislaw Markelow, der sich für Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einsetzte, im Januar 2009 in Moskau und der Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa im Juli 2009 in Grosny. Ihnen hat die Regisseurin diesen Film gewidmet.
Ãœber die Regisseurin
Kerstin Nickig, geboren 1971 in Duisburg, Rheinhausen, studierte Russistik und Germanistik in Köln und Moskau. Sie absolvierte Nebenstudien in Filmregie an der Hochschule für Film- und Fernsehen in Potsdam und der Nationalen Filmschule in Lodz/ Polen und arbeitete in Nichtregierungsorganisationen in Deutschland und Russland. Seit 2004 lebt und arbeitet Kerstin Nickig als freie Filmemacherin mit Schwerpunkt Dokumentarfilm in Berlin. Sie verbrachte insgesamt vier Jahre in Russland.
AVIVA-Tipp: Dieser Film ist zuallererst ein Film über Europa. Die Regisseurin Nickig thematisiert darin das Leben in der Illegalität. Wie hofft man, wenn man wie Ruslan kein Recht auf Arbeit hat, keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Papiere und keine Staatsbürgerschaft? Die ZuschauerInnen werden zeitweise selbst zur AnwärterIn und blicken in die Warteräume auf müde Frauen und Kinder. "Kein Ort" ist eine bewegende und eindringliche Dokumentation, die durch die Einzelschicksale berührt und eine vergessene Region wieder in das Bewusstsein der europäischen ZuschauerIn zurückholen möchte. Unbedingt reingehen und hingucken!
Auf der Webseite zum Film finden sich weitere Informationen zur Situation in Tschetschenien, dem Asylverfahren, Alis Tagebuchaufzeichnungen und zahlreiche weiterführende Links.
Kein Ort. Fluchtwege von Tschetschenen in Europa
Bundesrepublik Deutschland 2009
Originalversion (deutsch, englisch, polnisch, russisch, tschetschenisch) mit deutschen Untertiteln
Eine deutsch-polnische Koproduktion von time prints, Berlin und Metro Films, Warschau in Koproduktion mit ZDF/3sat und TVP S.A.
Produzent: Michael Truckenbrodt
Buch und Regie: Kerstin Nickig
Laufzeit: 89 min.
Kinostart: 15.04.2010
Verleih: GMfilms
www.nowhere-in-europe.de
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